Bernhard Tilg

Theorie und Material

Allerorts stellen wir eine unaufhörliche Beschleunignung fest.[1]

Auch im Bereich der Kunst. "Welchem Raum mißtraut Cezannes? Dem der Impressionisten. Welchen Gegenstand hintergehen Picasso und Braque? Denjenigen Cezannes. Mit welcher Voraussetzung bricht Duchamp 1912? Mit der, daß ein Maler ein Bild zu malen hat, und sei es kubistisch."(Lyotard, 1987, S. 26) "Weiße (Manzoni) oder schwarze (Malewitsch) Bilder werden gemalt, soziale Plastiken (Beuys) und immaterielle Skulpturen (Gerz) entworfen..." (Jochum, 1999), und Debord schießt sich ins Herz. Das ist die Banalität der Situation.

Diese Beschleunigung ist auch ein Aspekt der Axiomatik des Kapitals: beschleunigte Produktion - Konsumation - Zirkulation = Wachstum. Auch die Kunst ist dieser Axiomatik untergeordnet. Das Neue, die Avantgarde und die Neoavantgarde haben immer Saison. Denn: Neues verkauft sich besser, und letztlich gehört die Kunst- und Kulturbefissenheit zum Design des (post)modernen Zeitgeistes. Das Design hat System und ist bedingt von Makro- und Mikrosystemen und deren Verflechtungen; das ist dann der Raum der Kunst-Produktion, der Kunst-Vermittlung, der Kunst-Theorie, der Kunst-Rezeption, der Kunst-Kritik, des Kunst-Marktes oder der Kunst-Politik und der Philosophie der Kunst. In diesem Prozeß der Beschleunigung verwischen sich dann auch die Grenzen der Disziplinen und Kompetenzen. Was bleibt ist eine unaufhörliche Wucherung der Diskurse, die zunehmend ihre eigene Referenz bilden.

Mit Duchamp erreichen wir eine neue Stufe der Beschleunigung: die Transformation. Wie ein Orakel zeigt uns Duchamp eine neue Welt und erklärt das Pissoir zum Kunstwerk. Das System "Kunst" wird zum Gegenstand der Kunst selbst. Oder: der Diskurs ist zugleich Objekt und Subjekt seiner selbst und wird mithin hermetisch. Daher rührt auch, daß die Kunst des 20. Jahrhunderts in einem unübersehbaren Ausmaß erklärungsbedürftig ist (vgl. Jochum 1999). Denn wie ein weißes oder schwarzes Quadrat, ein Pissoir oder ein in Plexiglas eingeschweißtes Stück Scheiße beansprucht Kunst zu sein, scheint ohne entsprechende Diskurs-Kenntnisse nicht mehr nachvollziehbar zu sein. Und darin begrründet sich auch das Unverständnis, das der modernen und zeitgenössischen Kunst entgegen gegebracht wird.

Zugleich läßt sich mit diesem Unverständnis bis dato eine populistische Politik des Ressentiments betreiben, welche die moderne und zeitgenössische Kunst weit hintergeht, eine "erbauliche und schöne Kunst" fordert und zum neuen Kulturkampf gegen die Fäkalienkunst mobilisiert. Auch diese Umstände bedingen das System "Kunst" und ergeben eine weitere Beschleunigung. Oder "Man muß alles gleichzeitig berücksichtigen." (vgl. Deleuze/Guattari 1992), und entsprechend der fortwährenden Beschleunigung ist es notwendig, daß "der Künstler selbst zum Theoretiker" (Jochum 99) wird, um zu erklären, durch welche Transformationen des Blickes und der Diskurse Alltagsgegenstände zu Kunstwerken werden. Zugleich werden aber die Theoretiker auch Künstler, und schaffen "Theorie-Fiktionen" (Lyotard, 1977, S. 65), und insofern ist "Alles bei Duchamp ... Forschungsarbeit, reine Forschung." (Lyotard, 1986, S. 37) zur Herstellung von Mikrologien und Mikro-Universen (vgl. Lyotard, ebda. S. 71).

Die Leistung der Theorie besteht dann weiters darin, die Argumente und Regeln der jeweiligen Mikrologien oder Mikro-Universen mitzuliefern, und sie insofern "verständlich" zu machen. Die Theorie fungiert als Filter oder Transformator und stellt den Bauplan vor: zu welcher Zeit, an welchem Ort, mit welchem Material, nach welchen Koordinaten und Spielregeln, mit welchen Beteiligungen und Komplizenschaften. Aber: "Diese Frage ist keine Frage von Referenz, sondern von Transformation. Die Theorie ist eine operative Gruppe, die es erlaubt, vom Werk der Gestaltung zum Werk des Diskurses, das ersteres kommentiert, überzuwechseln." (Lyotard, ebda. S. 84) und ist insofern produktiv. In erster Hinsicht in Bezug auf die daraus sich ergebenden "diskursiven Praktiken" (Foucault), die ihrerseits wiederum die Formationsregeln des Systems "Kunst" bedingen und verändern. Denn die Produktion (von Wissen, Objekten, Skulpturen, Theorien etc.) ist nicht zu trennen vom Diskurs, der dann wiederum in die Produktion einfließt und diese zugleich verändert. Zentral für die Bestimmung der modernen und zeitgenössischen Kunst ist das Experiment. Und mit dem Experiment "...hat die künstlerische Forschung eine Wende genommen. Mit ihren Experimenten will sie etwas hervorbringen..." (Lyotard, ebda. S. 74), das bis dato keinen Namen hat und jenseits der jeweilig vorherrschenden Pragmatik und auch Erfahrung liegt. Immer geht es um die Herstellung neuer Verknüpfungen, Beziehungen, Relationen zwischen den Elementen des Systems "Kunst".

Nichts anderes geschieht, wenn der russische Künstler Brener in einem Akt des Vandalismus ein Malewitsch-Bild im Amsterdamer Stedelijk Museum mit einem grünen Dollarzeichen besprüht. "Seit Duchamp ist nun auffallend, daß es in gewisser Weise schwierig ist Künstler zu sein, ohne zugleich Philosoph zu sein. Philosoph (besser: Theoretiker A. d. V.) nicht in dem Sinn, daß man Platon oder Aristoteles gelesen haben muß, sondern insofern die Frage nach den Einsätzen zu stellen ist: was macht man eigentlich?" (Lyotard, 1985, S. 63f), egal ob im Bereich der Kunst, der Theorie oder der Philosophie [2]. Das ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten, den Dispositiven und zu überschreitenden Paradigmen. Zugleich finden wir in dieser Situation auch das Ergebnis einer Emanzipation wieder. Der Diskurs hat sich von der Vorherrschaft der Gestaltung und des Objektes befreit und beginnt, seinerseits seine eigene Referenz zu bilden. Die Diskurse werden wesentlich reflexiv. Auf der Suche nach den Produktionsbedingungen von Wissen, Theorie, Kunst oder Philosophie werden (in allen Disziplinen und Systemen) die Regeln der jeweiligen Pragmatik in Frage gestellt, und das System der "Kunst" ist mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, wie das der Wissenschaften oder der Philosophie: mit dem Versuch, die Regeln dessen zu erarbeiten, "...was gemacht worden sein wird" (Lyotard, 1987, S. 30). Das ist die (post)moderne Situation. Der Einsatz, der auf dem Spiel steht, besteht in erster Hinsicht darin, "... das Werk der Avantgarde-Bewegungen fortzuführen, ohne sich durch diese Ideale zu legitimieren..." (Lyotard, 1985, S. 30); das bedeutet: die Auflösung der disziplinären und materialen Grenzen, der Grenzen von Kunst und Politik, von Ästhetik und Ethik.

Und das hat weniger mit dem Begriff einer soziologischen Kunst als vielmehr mit Bäumen zu tun oder: Bäume verändern eine Stadt - lange vor der ökologischen Bewegung eine avantgardistische Unternehmung. Damit ist aber auch klar, daß die Materialität der Kunst ihre traditionellen Bereiche hinter sich läßt und eine neue Dimension erreicht, die unter dem Stichwort "immaterial" bezeichnet werden könnte. "Beim Begriff ´Immaterial` handelt es sich nun um einen etwas gewagten Neologismus.... Damit ist lediglich ausgedrückt, daß heute - und das hat sich in allen Bereichen durchgesetzt - das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt einem Subjekt entgegensetzt."(Lyotard, ebda. S. 25)

Ähnliches gilt auch für den Bereich der Humanwissenschaften, in welcher die Rolle des Menschen - als empirisch-transzendentale Doublette deutlich wird [3]. Einerseits der Mensch als Erkenntnisgrund und handelndes Subjekt, andererseits der Mensch und sein Bild als Erkenntnisgegenstand und erkanntes Objekt. Nun ist an diesem Punkt interessant, daß gegenwärtig alle möglichen Formen des künstlerischen Ausdrucks erlaubt sind und von der traditionellen Malerei und Bildhauerei bis hin zu Kunst im öffentlichen und medial-virtuellen Raum in einer Unzahl von Experimenten stattinden, zugleich aber der Gegenstand - das Kunst-Objekt immer noch die zentrale Kategorie bildet. Kunst tritt immer auf als Objekt und zeigt uns den Künstler als die letzte Zufluchtstätte des autonomen, modernen Subjekts. Nach dem GenieKünstler bleibt nur mehr das absolute KünstlerSubjekt, das der Welt gegenübertritt, und Objekte hervorbringt von einzigartiger Intensität und Orginalität. Darin bleibt auch die zeitgenössische Kunst modern und hinter der Theorie zurück. Denn es bedarf des Totalsubjektes "Künstler" um die Einzigartigkeit des Kunst-Objektes zu retten. Oft auch gegen die theoretischen Implikationen der künstlerischen Arbeit. Denn was unterscheidet ein x-beliebiges Pissoir vom Orginal im San Francisco Museum of Modern Art? Einzig allein die Person Duchamps und die Musealisierung. Im Bild des Künstlers findet das moderne Subjekt seine letzte Bastion, und um es los zu werden genügt es nicht, "inhumane Werke" (Lyotard) zu schaffen, sondern in erster Hinsicht muß das Verhältnis von Subjekt und Objekt neu durchdacht werden. Auch das Verhältnis von Theorie und Praxis. "Darum ist die Theorie nicht der Ausdruck, die Übersetzung, die Anwendung einer Praxis; sie ist selbst Praxis." (Foucault/Deleuze, S. 89, 1977). Und so wie die Theorie nicht der Praxis entgegengesetzt werden kann, insofern sie eine eigenständige Praxis - Erklärungspraxis - darstellt, kann auch das Objekt nicht mehr als dem (sich auflösendem) Subjekt engegengesetzt betrachtet werden. Das Material - besser Immaterial ist dann auch nicht mehr als Objekt dem Künstlersubjekt entgegengesetzt und äußerlich. Damit steht dann eine Frage von Bedeutung im Raum: Denn warum sollte in Zukunft nicht die Existenz selbst Gegenstand (Material und Immaterial) der Kunst sein? Weil: "Was mich in Erstaunen setzt, ist, daß die Kunst in unserer Gesellschaft nur noch eine Beziehung zu den Gegenständen hat und nicht zu den Individuen oder zum Leben... Das Leben jedes Individums - könnte es nicht ein Kunstwerk sein? (Foucault nach Eribon, S. 480, 1993), in Form einer ästhetischen und ethischen Weise der Existenz [4]. Das ist dann Kunst und Politik, Ästhetik und Ethik. Insofern sind wir dann alle Künstlerinnen und Politiker? Ohne bis dato zu wissen, was das heißen kann; aber mit dem Anspruch, es herauszufinden. [5]

Zentral bei dieser Frage nach dem Material ist: das Material kann nicht als Gegenstand (der Bearbeitung) und Objekt (der Re-Präsentation) einem urhebenden Subjekt entgegengesetzt werden (vgl. Lyotard, 1985, S. 25); insofern dieses dichotome Dispositiv der Ordnung der Welt überholt ist, seit der Mensch als empirisch-transzendentale Doublette (vgl. Foucault) erscheint und die kategoriale Trennung von Subjekt und Objekt durchbricht. In diesem Zusammenhang findet auch die Frage, warum die Kunst in unserer Gesellschaft nur eine Beziehung zu den Gegenständen, nicht aber zum Leben und dem Individuum unterhält, ihre Berechtigung. Darin findet sich auch ein Unbehagen an der (gegenwärtigen) Kultur: in der fehlenden Beziehung zu uns selbst als Subjekt und Objekt in der Weise, als daß unsere je eigene Existenz zwar als Ergebnis diskursiver Praktiken verstanden werden muß; zugleich aber unsere Existenz ihrerseits nicht mehr in der Lage ist, als Material der Sorge, der Veränderung, des Werdens, ästhetische und ethische Existenzweisen zu begründen. Das ist dann auch Denken als Strategie einer Übung des alltäglichen Widerstandes und die Frage nach einer künstlerischen Existenzweise. Und die Frage nach einer künstlerischen Existenzweise ist per se auch die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten minderheitlicher Existenzweisen, die wir uns zu erarbeiten haben werden. Das ist also nicht nur eine Frage der Ästhetik, sondern auch der Ethik und mithin eine politische Frage: Wie werden minderheitliche Lebensweisen möglich? Was ist eine antifaschistische Lebensweise, eine homosexuelle, eine weibliche, eine philosophische, eine künstlerische, eine drogenbenutzende? Wie stehen wir dazu und was können wir dafür tun. Das ist eine Frage weniger als Programm denn als eine Fluchtlinien, die als Ausgangspunkt eine Sorge um sich, das Leben und die dazugehörigen Möglichkeiten der Existenz hat. Denn: "Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, ob man anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist." (Foucault zitiert nach Eribon, 1993, S. 478). Damit verbunden ist auch die Frage nach den Möglichkeit des Lebens. "Das ist es, was Nietzsche als künstlerische Operation des Willens zur Macht entdeckte, als Erfindung neuer `Möglichkeiten des Lebens´" ... Welches sind unsere Existenzweisen, unsere Lebensmöglichkeiten oder unsere Subjektivierungsprozesse? Haben wir Formen, uns als >Selbst< zu konstituieren, und zwar wie Nietzsche sagen würde, ausreichend `künstlerische` Fomen, jenseits von Wissen und Macht? Sind wir dazu fähig, denn in gewisser Weise geht es hier um Leben oder Tod." (Deleuze, 193, S. 142 f), und um die Frage des Kunstwerkes, das unser Leben gewesen sein wird. Das ist das Denken in Experimenten und Fluchtlinien, und der Versuch, anders zu denken, um anders zu werden [6]. Darin besteht der Widerstand und das Leiden am Gegenwärtigen und das Denken einer anderen, möglichen Zukunft.

 

LITERATUR.

J.F.Lyotard,
Das Patchwork der Minderheiten, Berlin, Merve, 1977
Philosopie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin, Merve, 1986
Immaterialität und Postmoderne, Berlin, Merve, 1985
Zur Beantwortung der Frage: was ist postmodern? in: ders. Postmoderne für Kinder, Passagen, Wien, 1987

G. Deleuze, Unterhandlungen, stw, Frankfurt a. M. 1990
G. Deleuze, F. Guatari, Tausend Plateaus, Merve, Berlin, 1992
G. Deleuze, M. Focault, Der Faden ist gerissen, Berlin, Merve, 1977
D. Eribon, Foucault, stw, Frankurt a. M. 1993
M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, stw, Frankfurt a. M. 1971
G. Bachlard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, stw. Frankfurt a. M. 1987
H. Oman, Joseph Beuys, München 1998
C.C. Härle (Hg), Karten zu >Tausend Plateaus<, Berlin, Merve, 1993
R. Jochum, Manuskript zum Projekt >Dispositive<, Wien, 1999